Gott der Künstler
»Die absolute Ursprünglichkeit, der intensive, oft groteske Ausdruck von Kraft und Leben in allereinfachster Form – das möge es wohl sein, was uns die Freude an diesen eingeborenen Arbeiten gibt.« …schrieb der Maler Emil Nolde anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, und beschrieb somit in knapper Form einen Grundgedanken der das Zeitalter der modernen Kunst einleitete.
Es fand ein emotionaler Wandel im Kunstgedanken in einer revolutionären Zeit statt. Einige junge Künstler begaben sich damals auf die Suche nach neuen Wegen, nach neuen Erkenntnissen und neuen Realitäten für ihr Schaffen. Reisen in ferne Länder kamen in Mode und wurden begeistert genutzt. Da der Mensch sich bereits seit Anbeginn auf die Suche nach dem Paradies begab und einen Entdeckungsdrang in sich trägt, reiste man mit Vorliebe in weit entfernte exotische Länder, wo die Ziviliation der westlichen Welt noch wenig verbreitet war und alles noch ursprünglich und echt wirkte. Die jungen Kreativen suchten und fanden dort das Pure und Wilde in einer Intensität wie man sie hier in Europa selten zu finden vermochte. Neue und ungeahnte Inspirationsquellen taten sich den Künstlern auf.
Pablo Picasso, einer der Wegbereiter und wichtiger Protagonist der modernen Kunst mit direktem Draht zur Bildwelt exotischer Naturvölker im Südpazifik und Afrika, entdeckte das Spektrum primitiver Kunst für sich schon sehr früh und legte damit den Grundstein für viele moderne Stilrichtungen. Die für die westlichen Zivilisationen neue Ästhetik brachte frischen Schwung in die angestaubte, biedere Gesellschaft am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Ausstellungen mit Objekten und Plastiken afrikanischer Völker ließen Picassos Fantasie und damit auch die des Betrachters zur Höchstform auflaufen. Der Rest ist Kunstgeschichte. Auch in Deutschland ließ die Südsee in einigen Künstlern zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts neue Ideen erblühen. Die Künstlergruppe »Brücke« um Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde und Max Pechstein manifestierte ihr Werk in primitiver Kunst ferner Länder.
Die polynesischen Inseln im Südpazifik erhielten besondere Aufmerksamkeit im Schaffen der »Brücke«. Als erster der Gruppe begegnete Kirchner der primitiven Kunst der Palau-Inseln im Dresdner Völkerkundemuseum. Emil Nolde unternahm Reisen in südliche Länder und bezog seine Inspirationen sozusagen aus erster Hand. Ebenso wie der französische Maler Paul Gauguin, der von den polynesischen Inseln nicht nur als Reisender begeistert war, sondern direkt dort leben wollte und auch seine letzte Ruhestätte fand (Marquesas Inseln). All diese frühen europäischen Künstler waren, im Groben gesagt, die ersten die die Tiki-Idee in die Kunst brachten. Tiki – der Gott der Künstler.
Der populäre Begriff des Tiki, entstand allerdings erst einige Jahrzehnte später in den Vereinigten Staaten, wurzelte aber tatsächlich, nicht nur von der äußeren Anmut sondern auch von der wörtlichen Begrifflichkeit, in der Ethnologie der Polynesischen Völker. So bezeichnete man »Tiki« auf einigen Inseln als den Urvater ihres Volkes und verehrte ihn damals wie heute in Form grotesker Plastiken aus Holz und Stein.
Nach dem zweiten Weltkrieg brachten Soldaten der amerikanischen Armee diese Artefakte von den Inseln mit in ihre Heimat. Diese exotischen Mitbringsel avancierten schnell zu einem neuen Paradise-Hype in den späten Vierziger und frühen Fünfziger Jahren. Man schlug dem seriösen Alltag der Nachkriegszeiten mit ausgefallenen Südseebarbecue-Parties, auch Luaus genannt, ein Schnippchen. Passende Dekorationen nahmen dabei einen ebenso wichtigen Part ein, wie die fruchtigen Cocktails und Speisen. Und so wurden Tiki-Skupturen schnell zum wichtigsten Gast auf amerikanischen Gartenpartys. Da es natürlich unmöglich gewesen wäre, alle Deko-Tikis als Original-Schnitzereien den Polynesiern von ihren Inseln vor ihrer Nase weg zu importieren, setzten sich bald versierte Holzkünstler an Holz und Schnitzmesser und kreierten eigene Interpretationen polynesischer Holzplastiken. Man brauchte im Prinzip nur einige typische Stilelemente beachten. Grotesk, fratzenhaft, große Augen und grob stilisierte Proportionen.
Möglichst primitiv aber trotzdem kunstvoll ausgearbeitet sollten die neuen Götzen der amerikanischen Popkultur sein. Erste Tiki-Themenrestaurants und -Bars öffneten ihre Pforten und der gemeine Amerikaner strömte zum fröhlichen Exotik-Reigen zahlreich dorthin. Auch das traute Heim eroberte Tiki im Fluge. Möbel, Wohnaccessoires, Geschirr – eine ganze Industrie entstand um den Südseeurgroßvati »Tiki«. In den 50er und 60er Jahren gab es Tiki irgendwann im Überfluß und wurde von den Töchtern und Söhnen der Tikigeneration als veralteter Kitsch abgetan. Mit der Hippiegeneration versank auch das Exotik-Fieber langsam in der Bedeutungslosigkeit. Restaurants und Bars schlossen und verfielen, die kunstvollen Schnitzfiguren verstaubten auf den Dachböden amerikanischer Reihenhäuser. Eine ganze Popkultur geriet in Vergessenheit.
Nicht ganz in Vergessenheit – auch auf der jahrelangen Tiki-Durststrecke gab es immer einige Exotikliebhaber, die die Kultur am Leben erhielten. Sammler alter Relikte, Retrofans, welche dem Lifestyle der 50er und 60er Jahre huldigten und natürlich auch Künstler. Das Thema des Tiki in der Kunst manifestierte sich später aber weniger in dem authentischen grundsätzlichen Umgang wie bei den »Brücke«-Leuten oder Picasso. Vielmehr griffen die Maler und Grafiker, wie auch Bildhauer ab den 80er Jahren den popkulturellen Aspekt der Tiki-Götzen im damaligen Amerika auf. Ähnlich wie viele andere Symbole und Artefakte der neuen Retro-Welle hielt Tiki neben Hot Rods, Alienspielzeugen, B-Movie-Requisiten oder klassischen Pin-Up-Models erneut Einzug in die Kunst.
Vorerst in die Undergroundkunstszene, die einen eindeutigen Einfluß aus den 50er und 60er Jahren bezieht. So wurde Tiki als Popikone und Bar- und Restaurantinventar auf die Leinwände gepinselt und Eigenkreationen, in künstlerischer Eigenart, dieses Götzen erschaffen. Einer der heute bekanntesten »Tiki-Künstler« Shag machte die Südsee-Figur und ihre spätere Präsenz im Partyrummel zu seinem Sujet. Auch einige andere Künstler erhoben Tiki zu einem ihrer Hauptmotive, wie der Kalifornier Dave Burke, Miles Thompson oder die deutschen Maler Thorsten Hasenkamm und Moritz R.
Nicht nur bei den Malern hinterließ Tiki seine hölzernen Spuren, auch die Rock-Posterszene profitiert unlängst wieder vom Südseemann.Viele Rockabilly wie auch Surf Bands nutzen Tiki für ihre Artworks und beschreiben somit in exotischer Form ihren Musikstil. Die Art und künstlerische Interpretation des ursprünglichen polynesischen Idols ist dabei unterschiedlich und modern geworden und oft sehr weit entfernt von originalen Figuren. Aber Tiki hat ihn geschafft, den Weg aus dem Urwald über Kitsch hin in die moderne Kunst des 21. Jahrhunderts. Er ist eben der Gott der Künstler.