Moritz R

MoritzR_Silverlake

»Silverlake« heißt ein Stadtteil von Los Angeles. Hier lebt der Vater des Tiki-Revivals, Sven „Tiki“ Kirsten. Ein passender Ort für einen Auslands-Deutschen, erinnert der Name doch an Karl May und den „Schatz im Silbersee“. Als ich Sven anlässlich meiner Ausstellung in der Galerie „La Luz de Jesus“ 1996 zum ersten Mal in seinem neuen Haus besuchte, war Tiki schon kein Geheimtipp mehr.

Otto von Stroheim hatte gerade die ersten Ausgaben der Tiki News publiziert und ich hatte in München eine erste Ausstellung eröffnet, die sich ausschließlich dem Thema widmete. Für mich war die Begegnung mit den realen Relikten dieser Ära dennoch bewusstseinserweiternd. Es war als ob man nach Jahren Opel-Fahrens auf einmal in einem Cadillac sitzen durfte. In Deutschland war Exotic immer theoretisch, konzeptionell geblieben.

Im subtropischen Klima der kalifornischen Metropole war es »the real thing«. Hier waren die Palmen echt und die Luft duftete nach unbekannten Blumen – mit ein wenig gasoline-smell vermengt. Auch die Tiki-Fundstücke, die Sven innerhalb weniger Jahre zusammengetragen und kunstvoll arrangiert hatte, waren um Einiges eindrucksvoller als das was man in Good Old Germany so auf den Flohmärkten finden konnte. Ebay gab es ja noch nicht.

Prunkstück der Sammlung war ein Baum in seinem Garten, den der legendäre Bildhauer Leroy Shmaltz von Oceanic Arts eigenhändig mit der Kettensäge in einen 3 Meter hohen Tiki verwandelt hatte. Ein Moai, der quer über die Hügel auf das in der Ferne schimmernde Hollywood-Zeichen blickte.

Nachdem ich also vom Flughafen abgeholt worden war, setzten wir uns erstmal auf die Terrasse in die laue Abendluft. Einige Mai Tais und die raffinierte indirekte Beleuchtung des Gartens verfehlten ihre Wirkung nicht und ich war wieder dem Zauber der Exotic verfallen. Warum ist bei der Kunst des Tiki die Umgebung, das Drumherum so wichtig? Die Frage muss eigentlich ganz anders gestellt werden: Wie konnte in der modernen Kunst des 20. Jahrhundert das Drumherum so verkümmern?

Das in der Idee des White Cube endende Konzept eines entsinnlichten rein mathematischen Ausstellungsraums, in dem Kunst sozusagen seziert, aber nicht mehr erlebt wird, ist Spiegelbild einer Gesellschaft, die menschliche Bedürfnisse ausrechnen muss, um sie zu befriedigen. Insofern war Tiki für mich die radikale Anti-These zum akademischen Kunstbetrieb und über abfällige Klassifizierungen wie Eskapismus oder Kitsch weit erhaben. Ich hatte beschlossen, mich dem Thema für eine Weile ausführlicher zu widmen. Und wo konnte man bessere Grundlagenforschung betreiben als in der Welthauptstadt der künstlichen Paradiese, L.A.?

Hollywood, Disneyland, Trader Vic’s… überall konnte man die Zeugnisse einer vergangenen Epoche finden. Mit der detektivischen Akribie von Schatzsuchern konnten neue Ausgrabungsstätten ermittelt werden. Fand man beispielsweise bei einem Tradler eine alte Streichholzschachtel mit der Adresse einer lokalen Bar, so konnte man diese Location darauf hin untersuchen, ob und was von damals übrig geblieben war. Die nächsten Wochen verbrachten wir hauptsächlich in Sven’s weissem 1962er Buick Le Sabre und kurvten kreuz und quer durch diese riesige Metropole, die doch insgesamt mehr einer Landschaft glich. Sven hat diese Methode zu Recht als urbane Archäologie bezeichnet.

Als Hommage an das Erlebnis malte ich später ein Bild mit dem Titel „Silverlake Cruising“. Es war Teil einer Serie mit fiktiven Plattencovern, daher die typographischen Elemente. Das einzige, nebenbei bemerkt, das nicht fiktiv bleiben sollte, sondern mit leichten Modifikationen ein paar Jahre später tatsächlich als Motiv eines Albums der Münchner Band »Merricks« Verwendung finden sollte.

Moritz R.